Theologisches Seminar „Foucault lesen am Meer“Prof. Dr. Barbara Müller und Prof. Dr. Christoph Seibert
19. September 2019
Foto: Foucault Seminar
Theologisches Seminar „Foucault lesen am Meer“ (Profes. Dres. Müller u. Seibert) - Bericht
Vom 19. bis zum 21. September 2019 fand im Christian Jensen Kolleg in Breklum (Nordfriesland) das interdisziplinär-theologische Seminar „Foucault lesen am Meer“ statt. Geleitet wurde es von Barbara Müller (Kirchengeschichte), Christoph Seibert (Systematische Theologie) und Oliver Vornfeld (Mitarbeiter im Forschungsprojekt). Barbara Müller und Christoph Seibert lehren am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg und leiten das Teilprojekt „Arbeit und Sinn“ im Forschungsverbund „Standards guter Arbeit“. Das Seminar diente der gemeinsamen Relecture, thematischen Vertiefung und vor allem Diskussion von Foucaults Vorlesung Hermeneutik des Subjekts (Vorlesung am Collège de France 1981/82), die für das Forschungsprojekt „Arbeit und Sinn“ zentral ist. Insofern wurde im Seminar forschende Lehre betrieben bzw. es ermöglichte den Studierenden die aktive Teilhabe an der aktuellen Forschung. Die Form eines auswärtigen Blockseminars wurde gewählt, um Ruhe sowohl vom sonstigen Lebensalltag als auch vom normalen Semester-Universitätsbetrieb zu haben. Gleichsam in Analogie zu den antiken Philosophen, die ihre Gedanken in Muße und oft in der schönen Natur entwickelten, begab sich eine Gruppe von fast 20 Foucault-Leser*innen in den locus amoenus Breklum, um sich in aller Konzentration und Intensität der Lektüre und dem Gespräch zu widmen. Natürlich fanden sich auch vergnügliche Momente jenseits der intellektuellen Anspannung, die aber wiederum auch der entspannten und angenehmen Arbeitsatmosphäre förderlich waren.
Michel Foucault (1926-1984), einer der einflussreichsten und originellsten Denker des 20. Jahrhunderts, bewegte sich beständig an der Grenze zwischen Soziologie, Philosophie, Psychologie und Geschichtswissenschaft. Arbeit ist in seinem Schaffen durchgängig Gegenstand der Analyse: Wie – beginnend bei Adam Smith – Arbeit zum Zentralbegriff der politischen Ökonomie geworden ist, zeichnete er in Die Ordnung der Dinge (1966) nach; Überwachen und Strafen (1975) hat die Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Ordnungen von Fabriken (hier schon im Vergleich zu Klöstern) zum Thema; in seiner Vorlesung Geburt der Biopolitik (1979) setzte Foucault sich ausführlich mit klassischen und neoliberalen Arbeitstheorien auseinander. Wichtiger noch wurde für Foucault später aber eine Form der Arbeit, die weit über die Berufsarbeit hinausgeht: Die Arbeit am Selbst bzw. die Arbeit an sich selbst. Dieses Themenfeld erforschte er in seinem Spätwerk – und zwar maßgeblich mit Bezug auf die griechische und römische Antike sowie das frühe Christentum.
Dieses Interesse Foucaults war auch leitend für die Vorlesung Hermeneutik des Subjekts. Von der griechischen Antike bis hinein ins Christentum erkannte Foucault „das Prinzip einer Arbeit an sich“ – wenngleich auch diese Arbeit mit der Zeit tiefgreifenden Veränderungen unterworfen war. Von Platon ausgehend und dann in die römische Antike fortschreitend bis hin zu den Kirchenvätern, untersuchte Foucault, in welcher Form philosophisch über Subjektbildung als Arbeit an sich selbst reflektiert wurde. Historisch schwingen hierbei immer auch die Fragen nach einem durch Wahrheit geprägten Verhältnis zu sich selbst, sowie dem gesellschaftlichen und dem individuellen Sinn der eigenen Tätigkeit mit. Eine wichtige Rolle kommt hierbei der Übung (griechisch: askesis, lateinisch: exercitia) zu. So Foucault: „Die Selbstbildung umfaßt ein Ensemble von Praktiken, das im allgemeinen mit dem Wort askesis bezeichnet wurde […], deren Ziel es ist, Subjekt und Wahrheit miteinander zu verbinden.“ Für diese Übungen oder Arbeiten an sich selbst wusste Foucault in Hermeneutik des Subjekts vielfältige Illustrationen zu geben: So sind sie bspw. bei Seneca das Gegenmodell zur stultitia (der Unachtsamkeit gegenüber sich selbst; wörtlich: Dummheit) und konkretisieren sich in gedanklichen Prüfungen und Meditationen wie der praemeditatio malorum, bei der sich alles Übel, das eintreffen könnte, als wirklich eintreffend vorgestellt wird. Es handelt sich bei Meditation um „Übung des Denkens am Denken“.
Zudem wurden Ausschnitte aus Foucaults Werk Die Geständnisse des Fleisches (Sexualität und Wahrheit, Bd. 4) zusammen erörtert. Dieses Buch erschien erst 35 Jahre nach Foucaults Tod im Juni 2019 (deutsche Übersetzung, französisch 2018) und stellt in vielerlei Hinsicht eine Weiterführung von Hermeneutik des Subjekts dar. Foucault analysiert hier ausführlich frühe christliche Theologien und das mit ihnen verbundene entstehende Mönchtum. Die Arbeit am Selbst wird hier gravierendend verändert: Statt einer Kunst der Existenz, die bspw. auf Prüfungen und Proben zurückgreift, aber einen alles in allem freien Umgang mit diesen hat, zielt – so Foucaults These – die christliche Geständnis-Prüfung (griechisch: exagoreusis, lateinisch: confessio) auf „perfekten Gehorsam“, es besteht eine „permanente Pflicht“ zur Prüfung, es handelt sich um eine „unbegrenzte Aufgabe“ bei der immer tiefer in die eigene Seele vorgedrungen werden soll und am Ende nicht die „Erneuerung des Selbst oder […] Befreiung des Subjekts“ steht, wie noch in der griechischen oder der römischen Antike, sondern „der endgültige Verzicht auf jeglichen eigenen Willen“. Inwiefern sich diese Position, die im frühen Christentum einen tiefen Bruch zur Antike sieht, belegen lässt und inwiefern die Einbeziehung anderer historischen Fakta das Bild auch entschärfen könnte, wurde im Seminar verhandelt.
Parallel zur Diskussion der Foucault-Texte wurden ausgewählte griechische und lateinische Texte (von Basilius von Caesarea, Epiktet, Gregor von Nyssa, Marc Aurel, Musonius Rufus, Platon, Seneca), auf die Foucault sich bezieht, gemeinsam erarbeitet, um herauszufinden wie er sie verwendet und ob sie adäquat rezipiert werden. Denn Foucault ließ keinen Zweifel daran, dass er mehr als ein rein historisches Interesse an der Antike hatte: Er meinte, in den dort vorfindlichen „Existenztechniken“ das Konzept einer „Lebenskunst“ (griechisch: techne tou biou; lateinisch: ars vivendi) gefunden zu haben, das fruchtbare Ansatzpunkte für eine Aktualisierung böte. Foucault bewegte die Konzeptionierung einer „historisch-praktische[n] Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können […] als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind“.
Die Bezüge zu aktuellen Debatten liegen auf der Hand. Zu nennen wären hier die Diskussionen um das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling), das als „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz) beständig dazu aufgefordert ist, an sich zu arbeiten und sich zu verbessern, um leistungs- und konkurrenzfähiger zu werden, dabei aber immer häufiger physisch und psychisch ausgebrannt als „erschöpftes Selbst“ (Ehrenberg) zurückbleibt. Andererseits ist es eine elementare Motivation menschlichen Handelns und Bedingung des Subjektseins, sich über die Grundtätigkeit Übung (Training) verbessern zu wollen und zu dem Menschen zu werden, der man gerne wäre. Nicht zuletzt definiert Foucault die Philosophie als Arbeit am Selbst, nämlich als „eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.“ Auch diese Themen wurden in den Seminardiskussionen angerissen, und somit konnte ein Themenkomplex vertieft werden, der bereits Gegenstand des vom Teilprojekt „Arbeit und Sinn“ veranstalteten Workshops „Arbeit am Selbst“ am 2. November 2018 gewesen ist.